Die Gegenwart befand sich schon vor Corona in der Krise: Die Dynamik der technologischen, wirtschaftlichen und in der Folge gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts hat unser Zeitgefühl durcheinander gebracht. Der österreichische Philosoph Armen Avanessian nennt die aktuelle Erosion des traditionellen Primats der Gegenwart spekulative Zeitlichkeit. Er sieht im inflationären Gebrauch der Vorsilben prä- und post- ein Indiz für die Auflösung des Gegenwärtigen im kontinuierlichen Bezug auf Vergangenheit (seltener) und Zukunft (öfter). Soziologen wie Jens Beckert und Elena Esposito schlagen hier die Brücke zu Wertschöpfungsprozessen im modernen Kapitalismus, in denen nicht mehr die Gegenwart (vor allem in Form von Arbeitszeit und Sachinvestitionen) für die Zukunft eingesetzt wird, sondern die Zukunft (in Form von Strategien, Visionen und Imaginationen) die Gegenwart erschafft.
Die existenzielle Erfahrung der Pandemie hat zwar zu einer kurzzeitigen Fokussierung auf die Behandlung von akuten Herausforderungen im Jetzt geführt, aber dann rasch einer sich ständig überbietenden Debatte um das New Normal nach der Krise den Weg geebnet. Nicht selten unter Rückgriff auf die epochalen Folgewirkungen von Seuchen in der frühen Neuzeit (Zusammenbruch der Feudalgesellschaft durch Verknappung der Arbeitskraft, Beförderung der medialen Revolution des Buchdrucks durch die Dezimierung der Anzahl von klerikalen Schreibern) wird aktuell darüber spekuliert, wie die Welt nach Corona aussehen könnte – auch in der Kommunikation: Back to a New Reality, Toward a Brave New World, Post-Pandemie-Konsum, NEUSTAAT, Zukunftslobby, Wohlstandardisierung lauten Schlagworte in Vorträgen, Denkschriften und Präsentationen, die momentan die Runde machen. Ihnen gemeinsam ist die Erwartung oder Beförderung von etwas fundamental Neuem, das sich nahtlos in einen Zeitgeist einreiht, der – angesichts digitaler Disruptionen, voranschreitenden Klimawandels und der zunehmenden Debatte um Gewinner und Verlierer der Globalisierung – eine Große Transformation als unabwendbar erscheinen lässt.
Tatsächlich hat COVID-19 Wirtschaft und Politik mit einem neuen Grad an Entscheidungskomplexität konfrontiert. Einer für jeden Menschen akuten Gefahr angemessen zu begegnen, die sich zeitgleich und weltweit stellt, deren Wirkungszusammenhänge noch erforscht werden müssen und bei der ein Ende nicht abzusehen ist, rückt an die Stelle der langfristigen strategischen Problemlösung die kurzfristige taktische Dilemma-Bewältigung: zwischen Freiheit und Kontrolle, zwischen Prosperität und Sicherheit. Die gegenwärtigen Erfahrungen im Umgang mit dieser neuen Komplexität werden auch die Zukunft des Kommunikationsmanagements prägen. Hierbei geht es um viel mehr als nur die Frage, ob nun endgültig der Durchbruch virtueller Kanäle und digitaler Plattformen in PR und Marketing erfolgt.
Für Unternehmen geht es darum, einen vierfachen Test zu bestehen: einen externen Vertrauens- und Flexibilitätstest und einen internen Resilienz- und Solidaritätstest. Nur so kann die taktische Dilemma-Bewältigung gelingen, in der die neuen Chancen und Herausforderungen für die Kommunikation liegen. Vertrauen erfordert Authentizität, Flexibilität erwächst aus Sinnstiftung, Resilienz speist sich aus starken Narrativen und Solidarität braucht Transparenz. Wer das auf sich wirken lässt, erkennt den Anpassungsbedarf des Kommunikationsmanagements weniger in den technischen Möglichkeiten der Zukunft als vielmehr in den menschlichen Erwartungen der Gegenwart. Insofern erleben wir in der Pandemie im Wesentlichen keine Neuerfindung des Kommunikationsmanagements, sondern vielmehr eine Wiederentdeckung bekannter Erfolgsfaktoren, die allenfalls mit neuen Tools noch gezielter angesteuert werden können. Gelegentlich in diesem Kontext das Alte dem Neuen vorzuziehen, bedeutet keinen Mangel an Innovation. Umgekehrt wird sich mancher steile Zukunftsentwurf für das Kommunikationsmanagement nach Corona – zwischen Virtualisierung, Automatisierung und Daten-Projektion – letztlich nur als Mode erweisen. Irgendwie schick und sicher auch unter Kostengesichtspunkten spannend, aber dennoch vermutlich wenig dauerhaft, weil an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Menschen vorbeigedacht. Um es mit dem Kulturtheoretiker Peter Groys zu sagen: „Das Alte muss zu jeder Zeit immer erneut erfunden werden und deshalb sind alle Renaissancen gleichzeitig große Erneuerungen“.