Akteure in Wirtschaft und Politik bewegen sich seit einigen Jahren in einer komplexen Konstellation zwischen Chancen und Herausforderungen, die sich aus fundamentalen ökologischen Krisen, beschleunigtem technologischem Wandel und der zunehmenden Polarisierung von Interessenlagen innerhalb von Gesellschaften wie auch zwischen Staaten ergibt. Obwohl dies die Aufgabe des Kommunikationsmanagements im wirtschaftlichen wie politischem Raum anspruchsvoller macht, liegt hier für unsere Disziplin eine große Chance – wenn wir sie nutzen.
Die Debatte um die richtige Balance zwischen wirtschaftlichem Fortschritt, nachhaltigem Wohlstand und sozialer Teilhabe hat ein neues Leitbild hervorgebracht: Stakeholder Kapitalismus. Larry Fink, CEO des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock, beschreibt die Aufgabe eines Unternehmens im Stakeholder Kapitalismus so: „Ein Unternehmen muss für alle seine Stakeholder Werte schaffen und gleichzeitig deren Wertschätzung erhalten“. Natürlich kann man sich ob des doch späten Zeitpunkts dieser Erkenntnis etwas verwundert die Augen reiben. Edward Freeman hat schon 1984 über den „Stakeholder-Ansatz im strategischen Management“ geschrieben und in Deutschland reicht die Tradition der Ausrichtung unternehmerischen Handelns auf gesellschaftliche Leistungsbeiträge jenseits sicherer Arbeitsplätze von der Gründerzeit der 1870er bis zur heutigen sozialen Marktwirtschaft.
Tatsächlich ist aber zu konstatieren, dass die Frage nach dem Mehrwert von Wirtschaft (und Politik) angesichts der existenziellen Bedrohungen durch den Klimawandel und die Corona-Pandemie wieder lauter gestellt wird. Der MIT-Forscher Otto Scharmer spricht in der Herleitung seiner Presencing-Theorie des organisatorischen und sozialen Wandels von den drei Abgründen, die zu überwinden sind, um von einem „Egosystem-Bewusstsein“ zu einem „Ökosystem-Bewusstsein“ zu kommen: Der ökologische Abgrund der Umweltzerstörung, der soziale Abgrund des Auseinanderfallens der Gesellschaft und der spirituelle Abgrund des Sinnverlusts. Der Fokus auf die Bedürfnisse interner und externer Anspruchsgruppen, der im Stakeholder Kapitalismus eine Brücke in die Zukunft bauen soll, rückt Fähigkeiten und Erfahrungen des Kommunikationsmanagements in den Mittelpunkt des Interesses, weil Empathie und Dialogfähigkeit mit dem Ziel von Glaubwürdigkeits- und Vertrauensaufbau zum Kernbestand seiner Kompetenzen gehören.
Allerdings sollte man sich mit der Freude über diesen Bedeutungszuwachs nicht allzu lange aufhalten, denn die Früchte, in Form von erweiterten Ressourcen und stärkerer strategischer Einbindung, werden der Unternehmenskommunikation nicht in den Schoss fallen. Exakt in dem Augenblick, da das „rothaarige Stiefkind der Branche“ – so beschrieb Branchenkenner Paul Holmes den Blickwinkel des Marketings auf die PR – ins Rampenlicht treten könnte, entdecken andere Disziplinen seine traditionellen Arbeitsweisen und Aufgabengebiete. Marketing sieht sich heute nicht nur im Dialog mit dem Kunden, sondern auch den Erwartungen der Gesellschaft insgesamt. Das Personalwesen versteht aktuelle und zukünftige Mitarbeiter als Stakeholder, deren Interessen nicht nur verstanden und bedient, sondern auch kommunikativ aus der Funktion heraus behandelt werden müssen. In Controlling und Finanzwesen spielen Fragen der Messung und Bewertung immaterieller Vermögensgüter eine immer größere Rolle, wobei zunehmend auch die Reputation bei wesentlichen Stakeholdern in den Blick genommen wird. Das unternehmerische Risikomanagement hat die Stakeholder-Reaktionen angesichts von Reputationskrisen fest im Blick und strebt numerische Exaktheit bei der Erfassung entsprechender finanzieller Risiken an.
Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, dass sich das Kommunikationsmanagement zu Tode gesiegt hat. Stakeholder-Orientierung, kommunikative Begleitung kontroverser Entscheidungen, Dialogfähigkeit auf allen Ebenen: Wirtschaft und Politik streben heute all dies an und das ist – neben schmerzhaften Erfahrungen – vor allem das Ergebnis jahrzehntelanger Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit vieler Praktiker und Akademiker der Disziplin. Und doch bleibt ein schaler Beigeschmack, wenn Stakeholder-orientierte Kommunikation zwar an Bedeutung gewinnt, aber die Unternehmenskommunikation weiterhin vor allem als Hilfswissenschaft oder Enabling Function für andere Managementfunktionen betrachtet wird.
Damit sich das ändert, muss sich die Disziplin weiterentwickeln und ihre Methoden zum Aufbau, zur Pflege und zur Bewertung von Beziehungen insbesondere zu kritischen Stakeholdern weiterentwickeln. Reputation wird als Leitwährung des Kommunikationsmanagement nicht mehr genügen. Im Stakeholder Kapitalismus muss die Unternehmenskommunikation Beziehungskapital bewirtschaften, das weit über Ansehen hinausgeht. Wir sollten uns dieser Aufgabe selbstbewusst und engagiert stellen.