Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard hat es vor mehr als 45 Jahren prognostiziert: Auf das Ende der erschöpften Meta-Erzählungen der Moderne – er führte u.a. die Aufklärung und ideologische Zivilreligionen wie den Marxismus an – würde ein Zeitalter der Micro-Narrative folgen. Sinnstiftende Erzählungen begrenzter Reichweite, die keinen universellen Geltungsanspruch erheben, sondern ein klar umrissenes Ziel legitimieren und Kräfte darauf fokussieren. Im Kern dieser Narrative steht weniger die faktenbasierte Realität mit nachvollziehbarem Wahrheitsgehalt als vielmehr ein aus Wertpräferenzen und emotionalen Hinwendungen geformter Wunschzustand mit Strahlkraft. Und exakt das ist auch der Grund, warum Zeiten des Übergangs und des Wandels immer auch Phasen sind, in denen Narrative Hochkonjunktur haben.
Auch professionelle Kommunikatorinnen und Kommunikatoren in Wirtschaft und Politik sind dabei eine treibende Kraft und sie sind sich der Wirkmächtigkeit dieses Ansatzes völlig bewusst. Wer z. B. von Disruption, Transformation oder Zeitenwende spricht, bereitet seine Zuhörer auf fundamentale Veränderungen vor, um sie auf die Zehenspitzen zu stellen und mitzunehmen. Abgesehen davon, dass die Wirkung dieses Impulses bei verschiedenen Zielgruppen überraschend unterschiedlich ausfallen kann, bleibt immer der Bezug zur Realität entscheidend. Kommunikative Narrative dürfen substanzielle Sachfragen nicht ersetzen – oder was ähnlich problematisch ist verschleiern – und daher macht es auch eher nachdenklich, wenn aktuell im öffentlichen Diskurs immer öfter und immer lauter nach anderen Narrativen gerufen wird, um kontroverse Positionen besser zu vermitteln.
Mehr „Geschichten des Gelingens“ sollen erzählt werden hat, kürzlich der Bundeswirtschaftsminister zielgruppengerecht dem OMR-Publikum zugerufen und FAZ-Herausgeber Gerald Braunberger formulierte im Vorfeld der EU-Parlamentswahl den bezeichnenden Hinweis, „dass Europa keine Narrative braucht und keine Symbolpolitik, sondern ein Handeln, das den Menschen nützlich erscheint“. Man muss nicht so weit gehen wie der Kolumnist Harald Martenstein, der den im Narrativ-Hype stets mitschwingenden Unterton des „Wir müssen unsere Botschaft den Menschen einfach noch besser erklären“ im Zusammenhang der Debatte um das Gebäudeenergiegesetz als „niederträchtig“ brandmarkte, aber es entsteht schon der Eindruck eines wachsenden Bedarfs an sachlicher Erdung kommunikativer Höhenflüge.
Diese Herausforderung spiegelt sich auf frappierende Weise in der internen Wahrnehmung und Positionierung des Kommunikationsmanagements in deutschen Unternehmen wider, wie sie jüngst im Rahmen einer Studie der Universität Leipzig mit Unterstützung der Akademischen Gesellschaft für Unternehmensführung & Kommunikation dokumentiert wurde. Nur rund die Hälfte des Top-Managements und kaum mehr als ein Drittel des mittleren Managements sind davon überzeugt, dass die Unternehmenskommunikation ihnen bei der Erfüllung dieser Aufgaben hilft. Und während 87 Prozent der Top-Manager mit der Kommunikationsabteilung zufrieden sind, liegt der Wert bei den Mitarbeitenden bei nur 51 Prozent. Eine Mehrheit aller Befragten fordert, dass Kommunikationsabteilungen besser erklären sollen, was sie tun und wie sie Wert schaffen. Brauchen wir also auch ein neues Narrativ für das Kommunikationsmanagement – zumal im Zeitalter des zunehmenden Einsatzes von KI?
Die Antwort liegt in einer anderen Dimension der Leipziger Studienergebnisse: Auf die Frage, „ob die Arbeit der Kommunikationsabteilung es leichter mache, eigene Ziele zu erreichen“ antworteten mit „Ja“ nur 50 Prozent der Spitzenkräfte, 36 Prozent der mittleren Ebene und 30 Prozent der Mitarbeitenden. Kommunikationsmanagement kann sich ohne Frage noch besser erklären, aber vor allem muss es Realitätsnähe und verlässliche Problemlösungskompetenz signalisieren. Dabei hilft dann auch die aktuell diskutierte Maschinisierung der Kommunikationsarbeit nicht, denn – wie die KI-Fachfrau Katharina Zweig es auf den Punkt bringt: „KI kann nicht begründen, wie sie zur Entscheidung kommt“. Oder anders gesagt: Es mangelt ihr an Realitätssinn.
In einem Text mit dem bemerkenswerten Titel „Wie man ein Universum schafft, das nicht zwei Tage später auseinanderfällt“, antwortet der Science-Fiction Schriftsteller Philip K. Dick 1978 auf die Frage Was ist Realität? so: „Realität ist das, was nicht weggeht, wenn man nicht mehr daran glaubt“. Narrative sind das Gegenteil davon und Kommunikatoren sollten ihnen mit Vorsicht begegnen, wenn sie Universen schaffen: sowohl in ihrer als auch für ihre Profession.