Kürzlich sorgten die Ergebnisse einer Befragung von Studenten der Sozialwissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität für Stirnrunzeln. Just dort, wo man in der Tradition der ehrwürdigen Frankfurter Schule einen Hort der Diskursorientierung und kommunikativen Ethik vermutet hätte, konnten die Wissenschaftler Matthias Revers und Richard Traunmüller zeigen, dass sich Studierende häufig sprachlich angegriffen fühlen und dass sich ein Drittel bis die Hälfte für die Einschränkung der Meinungsfreiheit ausspricht, wenn es um kontroverse Fragen wie Geschlechterdifferenzierung oder Zuwanderung geht. Der Religionsphilosoph Ingolf Dalferth konstatiert in diesem Zusammenhang eine Ideologisierung der Universität, in deren Folge es nicht mehr um die Klärung von Sachfragen, sondern um die Durchsetzung von Wertorientierungen ginge.
Die zunehmend angespannte Atmosphäre der gesellschaftlichen Debatte ist weit über die Universitäten hinaus zu spüren. Der Mangel an Bereitschaft zur argumentativen Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen bis hin zum Glauben an die moralische Überlegenheit der eigenen Position macht immer häufiger aus dem politischen oder ökonomischen Wettbewerber einen zu bekämpfenden Feind und aus gedanklichen Mitstreitern die Angehörigen des gleichen intellektuellen Stammes, die sich von abweichenden Positionen nicht irritieren lassen wollen. Wenn Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios – mit Verweis auf Untersuchungen von Friedhelm Neidhart, Barbara Pfetsch und Christian Eilders – von einer Kommunikationsstörung im Kommentariat der Leitmedien spricht, dann benennt er damit einen der wichtigsten Gründe für die zunehmende Tribalisierung der Öffentlichkeit. Einen echten Dialog der Leitmedien über die Fragen der Zeit gibt es nicht. Die Exponenten der Debatte lesen sich aufmerksam, aber sie erwähnen und zitieren sich gegenseitig nur sehr selten.
Wir erleben die paradoxe Zuspitzung aus Orientierungslosigkeit und Unwillen zum Dialog in einem denkbar ungünstigen Augenblick der Menschheitsgeschichte. Der Kulturphilosoph Bernd Scherer beschreibt den Übergang vom Holozän – in dem der Mensch Akteur vor einer mehr oder weniger konstanten Naturkulisse gewesen sei – zu einem Anthropozän, in dem der Mensch nicht nur immer stärker in Natur- und Biosphäre eingreift, sondern mit Hilfe digitaler Technologien auch völlig neue (Zeichen)Welten erschaffe. Den Übergang von der holozänen zur anthropozänen Welt könne der Mensch nur bewältigen, wenn er neue Formen von Solidarität und gemeinsamen Denk-, Handlungs- und Arbeitsweisen erprobe.
Warum fällt der Mensch gerade dann, wenn angesichts einer Zeitenwende eigentlich vor allem konstruktives Ringen um die beste Lösung gefordert ist, in autoritäre Reflexe wie Denkverbote und sprachpolizeiliche Maßnahmen bis hin zur heiß diskutierten Cancel Culture zurück? Der Neurobiologe Gerald Hüther verweist hier auf das Streben nach Kohärenz, das es dem menschlichen Hirn erlaubt, einen Zustand möglichst geringen Energieverbrauchs zu erreichen. Der Mensch ist aus biologischen Gründen gleichsam süchtig nach Kohärenz und wo sie verwehrt bleibt, entsteht Angst und der Wunsch die Inkohärenz – etwa zwischen individueller Lebensführung und gesellschaftlichen Erwartungen – zu beseitigen; manchmal auch auf Kosten des Realitätsverlusts. Dafür gibt es in Zeiten großer Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft natürlich reichlich Anlässe.
So sehr Kohärenz nachvollziehbares Movens individuellen Verhaltens sein kann, so sehr kann sie den konstruktiven Diskurs in der offenen Gesellschaft gefährden, der laut Popper dem Prinzip von Versuch und Irrtum folgen sollte und in dem für nicht hinterfragbare Wahrheiten kein Platz ist. Je komplexer die Welt ist, in der wir leben und arbeiten, umso mehr werden wir persönlichen Widerspruch und widersprüchliche Sachverhalte ertragen müssen. Dafür lohnt es sich auch Gedanken und damit Energie zu verschwenden. Der Wirtschaftsethiker Andreas Suchanek hat für den öffentlichen Diskurs im Anthropozän die richtigen Erfolgsfaktoren benannt: „Im Kern geht es um Dialog und respektvolle Kommunikation“. Dazu können die Kommunikationsmanager einen Beitrag leisten, indem sie Unternehmen zur kritischen Selbstbeobachtung und zum offenen Dialog befähigen. Medien hingegen sollten das vermeiden, was der renommierte Wirtschaftspublizist Rainer Hank kürzlich als „unausgesprochenen Pakt der Journalisten mit dem Zeitgeist von heute“ beklagt hat.