Galileo Galilei formulierte trotzig sein „Und sie bewegt sich doch“, obwohl er unter dem Druck der Inquisition seine Erkenntnisse zum heliozentrischen Planetensystem widerrufen hatte. Von der realistischen Darstellung und Einschätzung dessen, was der Fall, ist hängt viel, manchmal sogar alles ab. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der – wie Niklas Luhmann es schon Mitte der 90er Jahre festgestellt hat – unser Zugang zur Realität weitgehend medial vermittelt ist. Nicht nur orientieren wir uns in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens am Bild, das die Medien täglich von der Welt zeichnen; im Zeitalter der digitalen und vor allem der sozialen Medien sind wir selbst zu Gestaltern einer liquiden Kartographie der Wirklichkeit geworden. Kommunikationsmanagement lebt vom Anspruch, Medienlandschaften seismographisch zu vermessen und dann – Chancen und Risiken beachtend – (mit) zu gestalten. Wie Michel Houellebecqs alter Ego Jed Martin in seinem gleichnamigen Roman entfalten wir unsere Wirkung im Spannungsverhältnis zwischen „Karte und Gebiet“ – im Buch entsteht aus dem Abgleich zwischen Michelin-Straßenkarten und Satellitenbildern eine eigene Kunstform.
Es liegt in der Natur der massenmedialen, zunehmend digitalisierten Realitätsproduktion, dass die Wirklichkeit nicht verlässlicher oder gar eindeutiger wird. Wir erleben vielmehr eine Multiplikation der Realitätsausschnitte und ihrer Interpretation bzw. Gestaltung durch kommunikative Akteure aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Politik, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und natürlich auch durch Nutzer der Sozialen Medien in der Bandbreite zwischen Normalnutzer und Influencer. Wir steuern zunehmend in ein kommunikatives Paradox: mediale Transparenz gebiert gesellschaftliches Misstrauen.
Hier die Sozialen Medien mit ihren technologischen Gestaltungsmöglichkeiten zwischen digitaler Bildbearbeitung und Realitätsdefinition via Gruppendruck als eine Ursache zu benennen, zeigt noch keine Perspektive auf. Wir können das beklagen oder nicht, aber wir fahren nicht mit der Faltkarte in die digitale Zukunft, sondern mit dem Navigationssystem. Nichts spricht dagegen, es zu nutzen, solange man das entscheidende Mantra murmelt: Das da auf dem kleinen Bildschirm ist nicht die Realität! Es gilt nicht einmal zwingend das alte Prinzip des What You See Is What You Get (WYSIWYG) aus den Pioniertagen der Textverarbeitung, wie alle wissen, die schon einmal vom Navi auf eine temporäre Skipiste oder an eine nicht mehr vorhandene Brücke geführt worden sind.
Kommunikationsmanagement muss Lagebilder zeichnen und Aktionsfelder definieren. Ohne Abstraktion ist das unmöglich. Realitätsnähe entsteht hier weder im Glauben an die digitale Analyse noch im Vertrauen auf den Bauch. Grundlegender Erfolgsfaktor ist eine Balance zwischen Aufgeschlossenheit und Skepsis: gegenüber der Exaktheit numerischer Berichte, gegenüber der ästhetischen Attraktivität neuer Formate, gegenüber Wertbezügen in der Sprache. Unser Handwerkszeug selbst ist zur Botschaft geworden und wir agieren in einem komplexen Wechselverhältnis von Senden und Empfangen. Marshal McLuhans „The medium is the message“ war gestern: heute sind Format, Sprache und sogar Kontext – wie der Schweizer Künstler Urs Fischer argumentiert – Botschaften in sich selbst.
Um diese Herausforderung zu bestehen, braucht es einen klaren Kompass und Ausdauer. Man muss nicht Teil einer „Show-Ökonomie“ werden – wie das Manager Magazin kürzlich einen Artikel zur LinkedIn-Präsenz von DAX-CEOs überschrieben hat –, um kommunikative Wirkung zu erzielen. Und wer täglich einen klaren Blick auf die Realität zwischen Karte und Gebiet der Medienlandschaft haben will, der muss in seinem Team zumindest einen Frühaufsteher haben. Peter Turi hat neulich im Interview mit Peter Oberauer den Zeitpunkt auf 5 Uhr festgelegt.
Zu guter Letzt darf man den Kontakt zum richtigen Leben nicht verlieren. Wau Holland, der legendäre Gründer des Chaos Computer Clubs, sagt in einem gerade angelaufenen Dokumentarfilm in einer Szene aus den 80ern: „Die unmittelbare Erfahrung ist wichtig und diesen ganzen virtuellen Dreck, den sollen sich einige mal abschminken“. Heute Journal-Moderator Claus Kleber, als er einen Beitrag zum genannten Dokumentarfilm abmoderierte, hat das in die richtige Perspektive gesetzt: „War nichts mit abschminken. Der virtuelle Dreck ist die Zukunft – tatsächlich“.